Der Brautstein

Vielfach trifft man in weiten ebenen Landstrecken des nördlichen Deutschlands, wo weit und breit kein Urgebirge zu erblicken ist, vereinzelte, oft sehr große Granitfelsenstücke an. Ein solcher Block oder Stein liegt auch in der Nähe des Städtchens Lüchow auf der Kolborner Heide. Er sieht über und über rotgesprenkelt aus und ragt meterhoch über den Boden empor.

Ein adeliges Liebespaar, dem des Schicksals Fügung Abschiednehmen gebot – denn der Ritter mußte in den Krieg ziehen – saß auf diesem Stein, der mitten in einem Birkenwäldchen lag, und gelobte sich gegenseitig ewige Treue. Ringsum am Boden blühte ein niedriges Sträuchlein voll weißer Blumen in Fülle. Der Ritter fragte voll Besorgnis, ob die Geliebte ihm wohl treu bleiben werde? Sie aber fühlte sich durch diese Frage sehr gekränkt und schwur, daß, wenn sie treulos werde, dieser Fels sich bewegen und ihr Grabstein werden solle! Da gab sich der Ritter zufrieden und schied beruhigt von der lieben Braut.

Aber nach einiger Zeit vergaß die liebe Braut ihres fernen Bräutigams, wie das so zuweilen zu geschehen pflegt. Sie hatte einen neuen Buhlen und ging mit ihm spazieren auf der Kolborner Heide ins Birkenwäldchen. Sie kamen auch von ungefähr an den Felsblock, ließen sich darauf nieder und führten Gespräche von der Liebe des Nächsten. Da erhob sich mit einem Male der Stein riesengroß aus der Erde. Der Liebhaber stürzte an den Rand der dadurch entstehenden Vertiefung; die Treulose aber stürzte hinein, recht wie in ein offenes Grab und wurde vom Stein, der gleich über sie sich wälzte, so zerschmettert, daß ihr Blut ihn bespritzte und auch die weißen Blumen ringsumher.

Nach langer Zeit kehrte der Ritter wieder heim. Sein Weg führte ihn durch jenes Wäldchen. Als er an den Stein kam, sah er, daß er mit rötlichen Flecken und Adern überlaufen war und die Blumen rot waren, die zuvor weiß blühten. Er ahnte nichts Gutes. Deshalb zog er sein Schwert und führte einen Streich auf den Stein. Da sprang ein Blutstrahl heraus, und ein Klageschrei tönte aus der Tiefe. Der Ritter pflückte einen Strauß von den Blumen, bestieg sein Roß und zog wieder in den Krieg, aus dem er nicht mehr heimkehrte. 

Die Blume, die zuvor weiß und hernach rot blühte, das ist die Heide. Den Stein hat man den Brautstein genannt und die Heide Brauttreue. Selten findet man jetzt noch hier und dort einen Heidestengel mit weißen Blüten. 

Quelle: Ludwig Bechstein, Märchen und Sagen, 1954 Droemersche Verlagsanstalt München

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